Abtreibungsmythen

Da viele Mythen im Internet umherschwirren und viele Frauen davon sehr eingeschüchtert werden können, möchte ich einen kleinen Überblick zum Verständnis schaffen.

 Ein Fetus spürt Schmerzen bei der Abtreibung – er zuckt sogar.

Die Fetalperiode, die nach der embryonalen Zeit folgt, beginnt ab der 9. Schwangerschafts-woche, eine Abtreibung ohne gesundheitliche Gründe ist innerhalb von 12 Wochen bzw. 3 Monaten möglich. Ein Fetus kann also bei einer Abtreibung keine Schmerzen spüren, weil bis zum 3. Monat die Großhirnrinde nicht entsprechend ausgebildet ist. Es ist in dieser Hinsicht irrelevant, welche Rezeptoren bereits entwickelt sind oder was das Rückenmark an unkontrollierten und reflexartigen Zuckungen veranlasst. Ohne ein entsprechend entwickeltes Gehirn gibt es kein Empfinden.

Schmerzen werden ausschließlich im Gehirn wahrgenommen und nirgendwo sonst. Wenn man den Entstehungsort der Schmerzen im Gehirn manipuliert, wird kein Schmerz wahrgenommen. Wenn man die Leitung von Schmerz-Rezeptoren zum Hirngebiet (wie bei einem Querschnittsgelähmten) unterbricht oder jene nicht ausgebildet sind, spürt man ebenso keine Verletzungen mehr. Nur das Gehirn kann den Schmerz wahrnehmen und interpretieren.  Nerven sind nur Leitungen, nicht der bewusste Wahrnehmer. Wenn sie zu einem nicht ausgebildeten Ort leiten, kann dieser unausgebildete Ort entsprechend schlecht Schmerzinformationen registrieren und dem Organismus vorführen, damit dieser gewisse Handlungen unterbricht. Es ist aber auch während der Schwangerschaft, anders als nach der Geburt, nicht nötig, ein so gut ausgearbeitetes Warnsystem zu besitzen, da man während der Schwangerschaft ohnehin vielen Umständen kaum ausweichen kann – wofür dieses System aber gerade gedacht ist. 
Gibt es keinen Interpreten, hat die gesendete Nerven-Information keinerlei Effekt. Erst mit dem Gehirn wird den Substanzen Bedeutung für unser Bewusstsein verliehen. Es ist ein Stromnetzwerk, das ohne Interpreten fehlschlägt. 

Zuckungen sagen nicht aus, dass es sich hier um Schmerz handelt. Reflexe passieren schmerzunabhängig. Weil für Schmerzen das Gehirn verantwortlich ist, für reflexartige Zuckungen das Rückenmark. Stolpern muss schließlich auch nicht wehtun, um dabei reflexartig das Bein anzuheben. 

Morula (16 Blastomere) by Bruno Vellutini

Die Entwicklung

Es gibt mehrere Keimblätter, aus denen sich einzelne Strukturen des Körpers entwickeln. Das Nervensystem entwickelt sich aus dem Ektoderm, das später zum Neuralrohr und Neuralleiste wird. Aus dem Neuralrohr wird das zentrale Nervensystem ZNS, das Gehirn und Rückenmark einschließt. Aus der Neuralleiste wird das periphere Nervensystem PNS. Beide sind verbunden. Reize aus dem peripheren Nervensystem (z.B. von Rezeptoren der Haut) werden an das ZNS weitergeleitet. Nicht direkt zum Gehirn, sondern erst per Rückenmark und dann zum Gehirn, was den Reiz interpretieren kann. Die Nerven, die aus dem Rückenmark in die Peripherie sprießen, sind dem PNS zugehörig. Die Bildung einzelner Nerven, die im Körper rumliegen, braucht weniger Zeit als beim komplexen Gehirn, weil sie einfacher gestrickt sind (ab der 7. Schwangerschaftswoche geht die Leitung los).
Das Gehirn ist ja ein Resultat vieler Nervenverbindungen. Aber es funktioniert nicht, wenn diese nicht miteinander arbeiten. Durch einfach rumliegende Nerven kommen keine klaren Signale zustande. Etwa ab der 8. Woche verknüpfen sich vorhandene Nervenzellen. Das macht das System jetzt noch nicht funktionsfähig. Im Gehirn reichen schon kleine Nichtverknüpfungen aus, um das System zu blockieren. Also muss sich eine Mindestanzahl an Nerven im Gehirn gebildet (dabei speziell für Schmerz in der Großhirnrinde) und verknüpft haben, damit das Gehirn überhaupt in der Lage ist, wahrnehmen zu können. Und diese Mindestanzahl, damit Wahrnehmung möglich ist, besteht so weit ich weiß vor dem 5.-6. Monat nicht. Auch vorhandene Organe können bereits funktionieren, haben aber auf die Schmerzleitung zur Zeit keinerlei Einfluss. Es ist, als würde man eine Verstorbene an einer Überlebensmaschine anschließen. Die Organe werden für Transplantationen durchblutet und frisch gehalten, das Gehirn ist aber schon längst nicht mehr aktiv. Auch müssen sich Myelin-Hüllen um die Nerven im Hirn und Rückenmark gebildet haben, damit die Reize auch wirklich entsprechend geleitet werden. 

„Gehirn-Beginn“

Erst in der 11. Woche beginnt eine klarere Gehirndifferenzierung – jedoch sind nicht einmal alle Teile klar abgegliedert und strukturiert, um Wahrnehmung zu erreichen. In der 12. Woche geht’s an die Entwicklung differenzierter Nervenzellen, speziell für bestimmte Reize, sodass die Reize gegliedert werden können. Ein Gehirnsystem, das der Wahrnehmung näher kommt, entsteht erst im 5.-6. Monat (zu dieser Zeit bilden sich auch Furchen und somit auch manche Spezialisierungspunkte im Gehirn). Und bis das Gehirn wirklich bereit und entwickelt ist, um Schmerz einigermaßen effektiv und differenziert zu spüren, kommt man wahrscheinlich schon in die Nähe des 7. Monats. Bevor nicht die Einzelteile entsprechend ausgebildet sind und miteinander kommunizieren können, kommt kaum ein Reizgefühl zustande. Erst im 6. Monat erinnert das Gehirn etwas an das fertige Modell – davor ähnelt es in einem nicht unerheblichem Maße noch einem unstruktierten Gebilde, das kaum eigenständig über den Körper herrschen und empfinden kann – und somit auf den Mutterkörper noch stark angewiesen ist. Und wie man weiß, reichen schon kleinste Störungen, um Empfindungen nicht mehr wahrzunehmen.
Da soll ein ein System, das nicht ansatzweise entsprechend verknüpft ist, schon gezielte Wahrnehmung differenzieren? 
Das kriegt das Gehirn ohne all die wichtigen Verknüpfungen, die miteinander eine große Rolle spielen, nicht hin. Ich würde allerfrühestens 5. Monat für solche Empfindungen sagen, was als Wert sehr früh gewählt ist, weil bis dato die Bildung nicht wirklich ausreicht. Aber zweiter Monat? Das ist sehr zu bezweifeln.
Ich finde leider keine anständigen Bilder zur Gehirnentwicklung im 2. Monat in Google. Aus meinen Büchern kann ich es nicht scannen, da mir hierfür Lizenzen fehlen.
Es sieht aber in etwa so aus (ich entschuldige mich für das Gekrakel):

 

 

Die Schmerz-Lüge

Wenn eine Abtreibung schmerzen würde, könnte schon die reine menschliche Entwicklung starker Schmerz sein – denn das Wachstum, das schnelle Dehnen der Nerven, das Drücken in verschiedene Bahnen usw. wären in der Geschwindigkeit der Schwangerschaftsentwicklung nicht zu vernachlässigen. Die Wahrnehmung besteht aber zu Beginn nicht – und damit auch kein Schmerz.
Spätabbrüche, die nur unter sehr problematischen Situationen möglich sind, sind in westlichen Ländern ebenso keine Grausamkeitsakte. Es wird Kaliumchlorid gespritzt (wie bei der Todesspritze), was ein ein simples Salz ist, aber in den Nervenbahnen die Polarisationsvorgänge und damit das Gleichgewicht der chemischen Leitung verhindert. Es kommt dadurch ein Kurzschluss zustande. 

Abtreibungsgegner-Websites

Manche könnte man schon „Abtreibungsgegnerseiten mit dem Versuch, einem Unwahres einzureden, um die eigenen Ansichten durch unberechtigte Ängste manipulativ zu verbreiten“ nennen. Viele sind kein Stück fundiert, beinhalten irgendetwas Zusammenhangloses und schüchtern Betroffene stark ein. Vielleicht wissen sie es auch einfach nicht besser und copypasten sich gegenseitig.

Häufige Argumentationsweise ihrerseits zum Schmerz:
Es bestehen schon Nerven.

Und wie oben ausführlicher beschrieben, bringen sie einem schmerzbezogen in der Abtreibungszeit nichts, weil das Gehirn die Signale nicht interpretieren kann, da es nicht weit genug ausgebildet ist. Außerdem können Nerven in der Zeit sowieso nicht immer Reize entsprechend transportieren, sind kaum untereinander verknüpft etc. Das beginnt, wie gesagt, viel, viel später.

„Paradox ist nur folgendes: Gesetzlich ist es verboten sich z.B. mit Absicht einen Finger abzuschlagen, im Gegenzug ist es aber erlaubt ein kleines Kind, das im eigenen Bauch heranwächst, zu zerstückeln! „

Das stimmt ebenso wenig. Es ist gesetzlich verboten, abzutreiben, es ist aber in den ersten 12 Wochen nicht strafbar, wenn man an einer Beratung teilgenommen hat und 3 Tage Bedenkzeit hatte. Natürlich kann man sich Bedenkzeit nehmen, um zu überlegen, ob es für einen das Richtige ist oder nicht – sich aber von Mythen manipulieren und einschüchtern zu lassen kann Betroffene psychisch unnötigerweise stark ihr Leben lang belasten, obwohl an diesen „wissenschaftlichen“ Lügen nie etwas dran war. Nebenbei ist es sehr gängig, Fetus-Aufnahmen mit falschen Schwangerschaftswochen in Verbindung zu bringen – auch hier darf man am Recherchierten auf den Seiten sehr stark zweifeln.

Wenn sich militante Abtreiungsgegner und andere Hardliner mit ihrer Moralvorstellung zu etwas äußern wollen, halte ich es für sehr kritisch, wenn sie anstatt in ihrem Verständnisrahmen zu argumentieren, anfangen Argumente aus Bereichen zu erfinden, die Personen nachhaltig sehr schwer beeinträchtigen können und wissenschaftlich unhaltbar sind – wie es im 3. Reich getan wurde, um Personen mit „wissenschaftlichen“ Lügen für ihre Zwecke mit schwerwiegenden Folgen zu überzeugen. Hier geht es nicht um simple Vermutungen, welcher Händler ein Schildchen anders schneidert, sondern um psychische Zusammenbrüche Betroffener.

  • Osmium

    Eine Position die ich nachvollziehen kann. Die in Deutschland geltenden Gesetze zu dieser Problematik finde ich schon ganz vernünftig. Die Entwicklung von Empfingungsfähigkeit und Bewusstsein sind gute Ansatzpunkte um die Interessen des Kindes und der Mutter abzuwägen. Siehe dazu z.B. „Praktische Ethik“ von Peter Singer (was ich auch selbst endlich mal komplett lesen muss).